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Die Monocenter


Michelle konnte es sich gar nicht erlauben, vor dem Monocenter hin und her zu gehen und zu überlegen, ob sie hinein gehen sollte oder nicht. Schließlich hatte sie gerade 16 Stunden am Stück gearbeitet, damit sie sich die vollen 4 Stunden leisten konnte. Hätte sie genug Zeit gehabt, hätte sie vielleicht etwas anderes gemacht. - Aber was? Sie konnte sowieso kaum einen klaren Gedanken fassen. Alles was in ihrem Kopf, um ihr Gehirn schwirrte wie im Orbit, um andere Gedanken abzuwehren, war "Monocenter" und "Monokabine".
Es lief irgendeine Musik in der Bahn, aber sie hätte nicht sagen können, ob der Rhythmus und die Musik so wahnsinnig und verrückt waren, das es kaum erträglich war oder ob nur sie es so empfand. Sie wagte einen Blick auf die anderen Mitfahrenden. Keiner beschwerte sich. Alle saßen genau so wie sie da. Ruhig, in sich gekehrt, abwartend, unruhig. Moment - unruhig? - Nein, alles war ruhig. Da hinten zappelt einer etwas mit seinem Bein. Vielleicht gefällt ihm die Musik. Sie sah abwesend auf den PVC-Belag des Bahnabteils und hatte schon wieder vergessen, das sie sich eben noch Gedanken über die Qualität der Musik gemacht hatte.
Die Stimme des Sängers kam mit verquälten, verzerrten Tönen aus den Lautsprechern und die Töne wurden ständig verändert mal dumpfer mal höher. Die Geschwindigkeit der Musik änderte sich auch während des Stückes und wäre Michelle so weit gekommen, sich den Text anzuhören und darüber nachzudenken, dann hätte sie vielleicht sogar für einen Moment rebelliert und wäre aufgestanden und...
Eines wusste sie: Hier musste sie aussteigen. Als sie die Treppen hoch ging zum Ausgang, hätte man sie fragen können wie die Station hieß, - sie hätte es nicht sagen können.
Es drehten sich nur diese Worte um ihren Kopf und machten sie ganz benommen. Sie ging in den Center und schnappte sich die erste, unbesetzte Kabine, die allerdings erst weit hinten war. Als sie die Tür öffnete, sah sie am Eingangsbereich von dem sie gekommen war, wie ein Mann ziemlich unbeherrscht angetaumelt kam und jemanden der gerade eine Kabine verließ, harsch heraus zog und zur Seite stieß, damit er selbst schnell in der Kabine verschwinden konnte. Der heraus kam, machte sich nichts daraus. Er war glücklich. Wahrscheinlich hatte er es gar nicht registriert. Michelle hielt sich fast für verrückt, weil sie immer noch nicht drinnen war. Sie zog die Tür hinter sich zu und ließ sich in den Sitz fallen. Dann zog sie in einem Kraftakt, ihre kleine Handtasche hoch und wollte eilig ihre Lohnkarte in den Schlitz stecken, damit es endlich losgehen könnte, als sie in Panik geriet. Sie hatte die Karte gar nicht aufgeladen als sie die Fabrik verließ. Ihre Augen waren weit geöffnet und sie versuchte sich zu erinnern. Hastig griff sie die Karte aus ihrer Tasche und schob sie in den Schlitz. Auf dem Bildschirm stand es. "0,76". Das war zu wenig für irgendwas. Michelle schüttelte es und ihr Blick strahlte panische Angst aus. Jetzt musste sie den ganzen Weg zurück zur Fabrik, zur Lohnausgabe und dann wieder hierher. Das könnte 20 Minuten und länger dauern. Unruhig wippte sie auf dem Sitz vor und zurück und versuchte verzweifelt, eine andere Lösung in ihrem Kopf zu finden. Doch es gab keine. Sie stand wieder auf, öffnete die Tür und verließ eilig die Kabine und ging zurück zur Bahnstation. Als sie auf dem Bahnsteig war und gezwungen war auf die Bahn zu warten, kam ihr der Gedanke an eine Zigarette. Gleich darauf entwich ihr ein belustigtes kurzes Lachen. Sie sah sich um, ob es jemand bemerkt hätte, doch da war niemand. Zigaretten kosteten 34 Einheiten. Der Gedanke das jemand eine Zigarette kaufte und im gleichen Moment, auf über eine Stunde in der Kabine verzichtete, war absurd. Trotzdem erinnerte sie sich an Zigaretten-Werbung in Bahnstationen und an Bahnhöfen und suchte eines der Plakate, doch sie sah keines. Wahrscheinlich Zufall. Sie presste unruhig die Lippen aufeinander, damit sie nicht zu unbeherrscht erschien. "Wo bleibt die verdammte Bahn", dachte sie.
Dann kam sie endlich. Sie stieg ein, setzte sich und lehnte sich zurück. Sie ließ ihren Kopf zurück sinken und sah an die Wagendecke als die Bahn anfuhr. Das sie dringend mal Urlaub brauchte, dachte sie. - "Urlaub. - Wohin? - Irgendwohin! Nur weg. - Weg von hier! Vielleicht in die Karibik oder so. Irgendwo, wo es warm ist. Wo Strand und Palmen sind und die Sonne scheint". Ein kurzer Gedanke zischte durch ihren Kopf und sie versuchte sich zu erinnern, ob es vorhin draußen Tag oder Nacht war, ob es geregnet hatte oder ob die Sonne schien. Sie wusste es nicht. Sie konnte es nicht sagen. Dann verschwanden ihre Gedanken wieder, in den warmen Wellen eines weit entfernten Strandes, wo es hell war und entspannt. Wo es keinen Stress gab und wo der Himmel blau war und die Getränke angenehm.
Langsam senkten sich ihre Augenlider und als sie sanft aufeinander trafen, durchzuckte es sie wie ein Blitz. Bloß nicht einschlafen! Sonst würde es noch länger dauern, ehe sie wieder in die Kabine kommt. Sie richtete sich auf und sah sich wieder um.
Im Wagen saßen an die 20 Leute, alle in ähnlicher Haltung.
Emotionslose, leere Blicke. Ab und zu mal ein Blick auf die anderen Mitfahrer. Aber sonst; Gedankenverloren, höchstens vier Schritt nach vorne, auf den Boden. Alle waren akzeptabel gekleidet. Keiner von denen war ein Arbeitsloser oder ein Penner. Michelle nahm nachdenklich ihre Hand vor den Mund und fragte sich, ob es einen von denen besser ginge, als ihr. Oder schlechter? Dann floh sie wieder zurück zu den Urlaubsträumen und riss sich selbst gleich wieder dort hinaus. Urlaub kostete eine fünfstellige Summe an Einheiten. Wie sollte man das wohl zusammen bekommen? Einmal hatte sie es drei Tage ausgehalten, ohne in die Kabine zu gehen. Es schüttelte sie ein kalter Schauer, wenn sie daran zurück dachte.
Sie fühlte sich so benommen. Alles kam ihr vor wie in einem dichten Nebel, obwohl sie klar sehen konnte. Sie sah den jungen Mann an, der ihr schräg gegenüber saß. Der könnte ihr gefallen. Er hatte schwarzes, gepflegtes Haar, das ihm etwas vor den Augen hing. Es glänzte etwas. Sein Anzug war auch schwarz und unter seinem offenen Jackett, war ein weißes Hemd. Obwohl er gekleidet war, wie zur Beerdigung, wirkte er doch cool. Woran lag es? Es waren sicher die paar offenen Hemdknöpfe, der Sternnietengürtel in grünen Metallglanz und seine Körperhaltung. Schade, das sie überhaupt keine Zeit für eine Beziehung hatte. Wie hätte sie ihn auch ansprechen sollen. Man könnte ja nicht einfach rüber gehen und losreden. Das macht man nicht. Außerdem würde er mich für verrückt halten. Wann hätte sie ihn auch treffen sollen? Wenn sie aus der Kabine raus kam, müsste sie erst mal wieder richtig ausschlafen. Wenn sie dann wieder aufwachen würde, müsste sie erst mal wieder arbeiten um die Einheiten, für den nächsten Kabinenbesuch zusammen zu kriegen. - ..Und dann...? Sie verfluchte innerlich diese Kabinen und fühlte sich schlecht. Ihr war nicht übel oder das sie Schmerzen hatte. Sie wünschte sich nur, das es nicht jeden Tag das gleiche wäre. Aber zum Glück gab es ja die Monocenter und die Kabinen. Ihr war in diesem Moment schon nicht mehr bewusst, wie Paradox das war.
Sie war bei der Fabrikstation angekommen und stieg aus. Eilig ging sie den Gang zur Eingangshalle und hastete durch die Türen. Ein Glück, das die Fahrt zur und von der Fabrik umsonst war. Fernfahrten waren teuer. Mit einem Auto, wäre sie sicher etwas schneller gewesen. Aber ein Auto zu unterhalten war ja noch teurer, als jeden Monat einen Urlaub zu machen. Die Versicherung für ein Auto, belief sich auf ungefähr 8000 Einheiten im Monat und 250 ml Benzin, kosteten 100 Einheiten. Sie führte den Gedanken nicht weiter fort. Es war zu absurd, für einen Menschen in ihrer Position über ein Auto nachzudenken. Besserverdienende könnten das machen. Diejenigen die es nicht nötig haben mit der Bahn zu fahren. Wo immer die auch sein mögen.
Sie war am Zählautomaten angekommen, legte ihre Hand auf den Bildschirm und sah auf den Augenscanner. Ihr Name erschien auf dem Bildschirm und die Aufforderung das sie ihre Karte in den Schlitz stecken möge. Eilig fingerte sie die Karte mit zuviel Hektik, in den Schlitz hinein. Dann erschien ihr Verdienst von 176 Einheiten auf der Anzeige und der übliche Text. "Vielen Dank für ihre Dienste. Haben sie viel Vergnügen mit ihrem Lohn und einen schönen Tag, Michelle Kopasku!" Als die Nachricht verschwand und der Bildschirm wieder schwarz wurde, war Michelle schon wieder am Ende des Ganges, an der Tür, die zurück zum Bahnsteig führte. In den Gängen kamen ihr ein paar der Kollegen entgegen, die sie in ihrer Abteilung schon mal gesehen hatte. Doch keiner grüßte den anderen. So was war nicht üblich. Selbst die Frau, die seit über 6 Jahren direkt neben Michelle am Fließband arbeitete, ging vorbei und sah sie nicht einmal. Michelle fiel es auch erst auf, das sie es war, als sie schon wieder auf dem Bahnsteig, auf den nächsten Zug wartete. Aber sie hätte sich auch nicht anders verhalten, wenn sie sofort erkannt hätte, das es ihre direkte Arbeitskollegin war. Sie wusste ja nicht einmal, wie die heißt. Sie könnte sich auch nicht erinnern, jemals ein Wort mit ihr gewechselt zu haben. Eine seltsame Ruhe überkam sie. Konnte sie sich nicht erinnern oder hatte sie tatsächlich nie mit ihrer Kollegin gesprochen? War das wichtig? Monocenter. Monokabine. Das war wichtig!
Die Bahn kam! Der heilige Zug, der sie zu dem heiligen Center, mit den heiligen Kabinen bringen würde. Schnell hinein! "Oh, du göttliche Kabine", dachte sie. "Bring mich fort von hier!" - War es hier so schlecht? Sie bekam die Lebensmittel, direkt bis nach Haus, zu ihrer Wohnung geliefert. In ihrer Wohnung hatte sie viel Platz. Viel Platz! Wie viel Platz eigentlich? Wie sah ihre Wohnung überhaupt aus? Der Weg zur Fabrik, war ja viel kürzer und schließlich konnte sie auch da schlafen. Die letzte Woche hatte sie jede Nacht in der Fabrik geschlafen. Die Betten dort waren hervorragend. Und in den Schlafräumen, war es wunderbar ruhig. Kein Geräusch drang dort hinein. Wieder wurde sie schläfrig und wieder berührten sich ihre Augenlider und wieder zuckte sie zusammen, als würde sie ein Blitz treffen. Wieder sah sie sich nervös um im Wagen, doch keiner, hatte gesehen wie sie aufgeschreckt war. Gleich war sie endlich bei dem Monocenter. Der Gedanke, den sie eben an ihre Arbeit hatte, war schon so weit weg, als lägen 50 Jahre dazwischen und doch wollte sie aus irgend einem Instinkt heraus versuchen, ihn weiter fortzuführen. Sie zermarterte sich ihr Hirn und hatte schließlich Erfolg. Die Kantine in der Fabrik hatte ja auch Morgens, Mittags und Abends Essensausgabe. Rund um die Uhr sogar. Man musste ja irgendwie wach bleiben, wenn man etwas länger arbeiten wollte. Dafür hatten sie Verständnis und es gab extra dafür diese Sprudel, die einem weitere 4 Stunden, bei voller Konzentration, an den Maschinen schenkten.
Die Bahn kam endlich an und Michelle ging gefasst zum Ausgang. Wieder die Treppen hoch und gleich in den Center. Dann hielt sie kurz an. Sie wusste nicht mehr warum, aber sie wollte sehen, wie das Wetter war und sah zum Himmel. Tatsächlich! Die Sonne schien und es war keine Wolke am Himmel. Sie drehte sich und nichts deutete darauf hin, das es regnen würde. Emotionslos sah sie in das blau über sich und überlegte dann, warum sie immer noch hier draußen stand. Sie ging schnell in den Center und fand gleich vorne eine freie Kabine. Eilig schloss sie die Tür hinter sich und setzte sich in die schwarzen Polster. Mit zweifelnden Blick, sah sie nach oben, in die fahle, kalt, blaue Beleuchtung, der dunklen Kabine und steckte ihre Lohnkarte in den Schlitz. "Bitte drücken sie die gewünschte Dauer", stand auf dem Bildschirm. Michelle tippte auf 4 Stunden. Die hatte sie sich verdient. Dann gab sie ihre gewünschten Erlebnisse ein: Urlaub, Sonne, Strand, Palmen, Meer, Sex... Der Rest war in der Datenbank, der Kabinencomputer. Die Kabinen kannten ihre Vorlieben und Triebe. Die Kabinen würden schon wissen was ihr gefiel und hatten sie noch nie enttäuscht. Der schwarze Schultergriff aus Hartplastik, legte sich langsam von der Rückwand auf ihre Schultern und der Kopfgriff, justierte ihren Nacken. Dann kamen langsam die schwarzen Stäbe von den Seiten hinunter, auf ihre Halsseiten zu, wo die Ventile waren. Aus den Stäben, schossen kleinere Metallstäbe, in die Ventile, in ihrem Hals und sofort schlossen sich ihre Augen und ein glückliches, entspanntes Lächeln erschien in ihren Mundwinkeln.
Jetzt war sie glücklich und hatte alles was sie brauchte.
In der Kabinenmaschinerie, befand sich ein wichtiges Modul, ohne das die Kabine nicht Funktionieren würde. Michelle wusste es nicht, aber vor 4 Jahren, hatte sie den Sockel für dieses Modul, in dieser Kabine, auf ihrem Fließband hergestellt. So wie sie jeden Tag damit beschäftigt war, diese Sockel herzustellen.
Aus dem Center heraus, befanden sich zur Rechten, die Straße hinunter, noch 20 weitere Monocenter, von denen keiner weniger als 200 Monokabinen beherbergte.
Etwa 20 Minuten Fußweg diese Strasse hinunter, befand sich ein Strand, mit dem schönsten, weißen Sand, den man sich hätte vorstellen können. Auch Palmen gab es massig und das Wasser hatte heute eine Temperatur, von cirka 22 Grad. Doch der Strand war total Menschenleer.
Wäre man zur Linken aus dem Monocenter die Strasse hinunter gegangen, kam man nach 5 Minuten zu einer Auffahrt, welche auf den 5-spurigen Highway führte, der wiederum in die wichtigen Stadtgebiete führte. Aber die Schildkröte, welche über die vierte Spur kroch, konnte sich Zeit lassen. Hier war schon lange kein Auto mehr entlang gefahren.
Die Strassen, waren lediglich nahe der U-Bahn-Ausgänge gesäumt von Menschen, welche die Monocenter betraten und verließen oder zu ihren Arbeitsplätzen gingen. Gelegentlich, erschien einem das seltene Bild einer einzelnen Person, die aus einem abgelegenen Haus heraus kam und wahrscheinlich mal in der eigenen Wohnung übernachtet hatte. In der Stadtbibliothek, arbeiteten 50 Angestellte, doch es gab kaum noch Besucher. Ein paar Reporter, die ihrer Arbeit nachgingen, waren gelegentlich darauf angewiesen, Recherchen zu betreiben. Auch Fernsehprogramme, Serien und Filme gab es noch. Doch sie wurden nur von den Kritikern gesehen, die dafür bezahlt wurden sie anzusehen.
In einem Reisebüro der Stadt, befand sich ein Besucher, um sich über die Preise zu informieren, doch er würde sie als zu teuer befinden müssen und "Es sich noch überlegen". Sollte er doch buchen, so würde er die nötigen Einheiten nicht aufbringen können und wenn es doch mal einer schaffen würde, dann würde er an dem Pförtner vorbei kommen, der normalerweise der einzige auf dem Flughafengelände ist. Am Terminal würde der Gast von seinem Piloten begrüßt werden, der ihn zu der kleinen Maschine geleiten würde, die maximal 5 Gäste aufnehmen kann. Sollte dieser imaginäre Fluggast dann tatsächlich an seinem Reiseziel ankommen, so würde er sich möglicherweise wundern, das die Menschen sich an seinem Zielort genau so benehmen, wie in seiner Heimatstadt.
Aber so weit wird es nie mehr kommen.



(Thomas Adams 10.2.2005)