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Gedanken eines freien Menschen in einer Demokratie


Speicherkarte, Uwe Matzke 7039, stand auf dem flachen Plastikding. 5 Millimeter dick, 85 Millimeter breit und 54 Millimeter hoch. Fader Silberglanz, - Bundesbehörde für Grundversorgung, Neu Brandenburg. Er lehnte sich mit seinem massigen Rücken gegen die noch halb offen stehende Eingangstür, so das sie langsam ins Schloss fiel, bis es klickte und starrte desillusioniert auf die Karte in seiner Hand. - Das war sein ganzes Leben. - Alles was er besaß. Wenn er umziehen würde, brauchte er sich nicht abzuschleppen. Er bräuchte nur seine Karte und wäre Reisefertig. - Na gut, natürlich war da das Grundversorgungssortiment an Wäsche, aber das war's dann auch. Der Rest gehörte zu seinem 3 mal 4 Quadratmeterzimmer und da war nichts, was man hätte mitnehmen können. Das Bett war fest eingebaut, ebenso wie der Kleiderschrank, mit seinen fest installierten Bügeln und Regalen. Da war nichts, das man bei einem Wutanfall hätte beschädigen können, außer sich selbst und für den Bestatter reichte das meist nicht, wenn man nicht wahnsinnig genug wäre vor Verzweiflung.
Sein Zimmer war wie eine Gummizelle, ohne gepolsterte Wände. Wie eine Gefängniszelle, ohne Gitter. Wie ein beaufsichtigter Raum, in dem er beobachtet wurde, ohne Kameras und Beobachter. Seine Hand begann zu Zittern und Schweißperlen standen auf seiner Stirn, als er die Karte wutentbrannt anstarrte. Mit dem Wissen das die Karte heil bleiben würde, drückte er sie in seiner Faust zusammen, das die Knochen knackten und sein Gesicht verzerrte sich zu einem verzweifelten, hilflosen, zerknitterten Ausdruck. Dann ließ er wieder locker und entspannte seinen Griff. Es hatte ja keinen Zweck. Damals hatte er die Karte in den Tollensesee geworfen, doch schon 2 Tage später, hatte er eine neue geliefert bekommen, mit exakt den gleichen Eintragungen. Nur das er 300 Euro berechnet bekam, von denen er dann 170 Euro abarbeiten musste. Sie hatten überall von seinen Daten Sicherheitskopien, von denen sie ständig Abzüge machen konnten und auf die sie ständig Einsicht hatten. Natürlich durften sie sich die Daten nicht ansehen, aber wer würde das verhindern? Wer kontrollierte das und wer scherte sich in deren Arbeitsabteilungen einen Dreck darum, wenn das Datengeheimnis irgend eines Arbeiters verletzt wurde?
Uwe rieb sich verzweifelt mit der Hand über Stirn und Kopf und versuchte sich wieder in den Griff zu bekommen. Er sah auf die Wand, die ihm eine lebendige Wiesenlandschaft mit umher fliegenden Vögeln und in der Ferne ein paar Kühen hinter einem Gezäun zeigte. An dem blauen Himmel stand eine Sonne. Es war einer der 3 Standard Hintergründe, auf die man laut der Grundversorgung ein Anrecht hatte. Die anderen 2, die er damals unter etwa 100 Verschiedenen ausgewählt hatte, waren ein karibischer See mit Wasserfall und eine Waldlichtung in den Bergen. Hätte er wenigstens die Wärme der Sonne spüren können, hätte ihn das vielleicht ein wenig beruhigt, aber er hatte sich an dieser kalten, toten Sonne schon so derartig satt gesehen, das sich in seinen Mundwinkeln nur pure Verachtung zeigte. Sicher war das Bild schön. Doch obwohl er mitten in dieser Landschaft stand, konnte er nicht an ihr teil haben. Er konnte nicht über die Felder laufen, seine blauen Arbeitsklamotten von sich werfen und sich in das weiche Gras legen. Es waren alles nur Pixel. Farbinformationen die der Zimmer-PC aus seiner Datenbank holte und ein wenig veränderte. Zumindest würde man nicht von Regen überrascht werden. Aber die Vögel gaben auch ständig die gleichen Laute von sich.
Einen vierten Hintergrund könnte er sich mal besorgen, dachte er, aber das würde recht teuer werden. Letztendlich sah er sich dann doch meistens für das Geld einen Film an, damit er nicht wahnsinnig wurde in diesem Loch.
Dann gab es ja noch das Laufprogramm, für die körperliche Ertüchtigung. Er würde die Sensorik einschalten, die Menüwahlknöpfe auf der Wand berühren und einen Feld- oder Waldweg auf den Wänden vorgegaukelt bekommen. Immerhin war das dann mal was anderes. Die Laufbänder im Zimmerboden, würden sich an seine Geschwindigkeit anpassen, egal ob er gehen, laufen oder rennen würde, und die Landschaft würde an ihm vorüberziehen und doch würde er sich nicht vom Fleck bewegen und immer in seinem Zimmer bleiben. Sicher könnte er in eines dieser überfüllten Einkaufszentren gehen, wo das Gedränge so groß ist, das man froh ist wenn man es wieder raus geschafft hat. Er könnte auch in eines der besseren Einkaufszentren gehen, wo man Eintritt bezahlen muss, um sich genau wie in allen anderen Einkaufszentren ein paar Dinge in den Schaufenstern zu betrachten, die man sich als Mensch der Arbeiterklasse sowieso nicht leisten konnte.
Uwe ließ sich müde auf das Bett fallen und starrte an die Decke mit dem blauen Himmel und der Wolke, die langsam vorüber zog, die er schon besser kannte, als seinen Weg zur Arbeit. Missmutig drehte er sich auf die Seite der Wand zu, wo er nur auf das leere Weiß starrte, das sein Bett umgab.
Uwe überlegte, ob er sich ein wenig die Nachrichten-Internetseiten ansehen sollte. Die Günstigen mit der Werbung, kosteten immerhin nur einen Euro für eine halbe Stunde. Doch wenn er heute Abend nach dem Essen noch einen Film sehen wollte, wurde das Geld schon wieder knapp. Gern würde er sich mal wieder einen neuen Film kaufen, damit er ihn öfter sehen konnte, doch die Gebühren für die einmalige Ausstrahlung, waren schon hoch genug. Er konnte sich eigentlich nicht einmal eine werbefreie Ausstrahlung leisten, aber das war der ganz kleine Luxus, den er sich immer leistete. Andererseits hatte er durch das Weglassen der Werbung, wieder mehr Zeit seine Wand anzustarren und über dieses aussichtslose Dasein zu grübeln, in dem er dahin vegetierte.
Er drehte sich schnell um und sah zur Zimmerecke, wo die Uhrzeit angezeigt wurde. Noch 2 Stunden bis es Abendessen in der Kantine gibt. Er schloss die Augen und stellte sich vor wie es wohl sein müsste, wenn er reich wäre. Dann könnte er selbst bestimmen wann und was er wo essen würde. Er saß an einem langen Tisch aus hochwertigen Holz, nicht diesen Hartplastikscheiß aus der Kantine. Auf dem Tisch war eine verzierte Tischdecke und ein fünfarmiger Kerzenleuchter, mit entzündeten Kerzen. Uwe hatte einen teuren Anzug mit Schlips an und eine junge Bedienstete brachte ihm in kurzen Rock eine Platte, mit einem glänzenden Wärmdeckel, den er dann anhob. Darunter würde sich ein köstlich zubereiteter Braten befinden, garniert mit Gemüse und Bratkartoffeln. Dann hatte er seine Hand unter dem Rock der Bediensteten, der es gefallen würde.
Mit wütenden Gesicht drehte er sich auf dem Bett um. Wie sollte er schon jemals an eine Frau kommen. Männern war es egal aus welchen Verhältnissen Frauen stammten. Männer scherten sich meist nur um das Aussehen. Frauen achteten auf andere Dinge. Eine reiche Frau würde sich niemals mit einem Mann aus der Arbeiterklasse abgeben und die Frauen der Arbeiterklasse, zogen meist mit besser verdienenden Männern ab. Es sei denn, sie sind so hässlich, das selbst ihm die Lust verging. Mit der Lebensart zu der die Arbeiterklasse gezwungen war, gab es auch so gut wie keine Möglichkeit mehr, sich vorher auf charakterlicher Ebene näher zu kommen, von der aus man später die äußerlichen Mängel ignorieren, übersehen oder sogar vergessen könnte. Nein - Körperliche Wärme und Nähe, würde für ihn auf ewig ein Wunschtraum bleiben, ganz zu schweigen von einer Familie. Da gab es dann so wundervolle Namen der Behörden, wie die staatliche Finanzperspektiven Beratung und die Nachwuchs Hilfsmittelstelle des Bundes und er hörte schon die Fragen, mit denen sie die Menschen dort malträtieren, bis man endlich die Freigabepapiere unterzeichnen würde. "Wovon wollen sie denn die Kleidung bezahlen? Das Kind braucht doch eine Ausbildung? Möchten sie denn nicht auch das es ihrem Kind besser geht? Wo soll denn ihr Kind leben? Sie können doch kein zweites Zimmer bezahlen!" - Das sind weder Hilfestellen noch Beratungen, man wird dort lediglich gezwungen seinen ungeborenen Nachwuchs auf Nimmerwiedersehen in ein staatliches Heim fort zu geben und zur Adoption freizugeben. Wäre das Kind bis zum fünfzehnten Lebensjahr nicht adoptiert, käme es in ein Arbeitslager mit staatlichen Unterkünften, so wie er hier. Auch wenn es nicht Arbeitslager hieß, so war es doch nichts anderes, denn auch wenn Uwe theoretisch den Beruf wechseln konnte und theoretisch umziehen konnte, so würde er doch nirgendwo hinkommen, wo es anders aussehen würde als hier. Die Unterkünfte für Arbeiter waren Standard und überall gleich. Die Preise für Erzeugnisse waren überall gleich, die Arbeiten die er angeboten bekam, waren überall gleich und die Menschen mit denen er arbeiten würde, waren auch überall die gleichen Arbeiter wie er. Es wäre lediglich eine neue Stadt, innerhalb von Deutschland.
Er mochte nicht mehr zur Arbeit gehen. Wenn er nur krank werden würde, könnte er zu Hause bleiben. Doch dann würde alles unerträglich werden. - Würde er zu Hause bleiben, bedeutete das den ganzen Tag diese dummerhaftigen Wände aus dem Bett anzustarren. Er könnte sich zum tausendsten Mal "Der wilde Drang" von A. Gertmann durchlesen oder zum tausendsten mal "Summercamp Tahoe" mit Eliane Ranner ansehen oder seine schmale Musikbibliothek wieder und wieder durchhören. Da könnte leicht realer Wahnsinn zu seiner Krankheit hinzu kommen. Würde er so krank werden, das man ihn in das Krankenhaus einweisen würde, könnte er sich ein halbes Jahr nichts mehr leisten. Was das kosten würde, mochte er sich gar nicht ausmalen. Schon ein Husten, der nicht von selbst wegging, zog eine Woche Schulden nach sich, ohne Filme, ohne Musik, ohne Lesematerial, ohne Extras in der Kantine. Da bliebe dann lediglich der überfüllte Volkspark, in den man bei Krankheit sowieso nicht gehen wollte. In geschwächtem Zustand, musste man dort Angst haben, das man dort von den Massen niedergetrampelt und überrannt wird, ohne wieder hoch zu kommen.
Er lachte kurz auf. - Das fand er witzig. - Auf diese Art würde er ihnen doch entkommen. - Zu nachtschlafender Zeit, von den Müllfahrern, vom Gehweg des Asphalts gekratzt werden.
Ein Sklave weniger.
Sie wussten schon, warum es in der Kantine nur Messer aus Plastik für die Arbeiter gab. Das sich nur nicht einer von denen frühzeitig verabschiedet. Rente gibt's erst mit 70. Obwohl er zu seinen Lebzeiten noch nie von einem Arbeiter gehört hatte der so alt geworden ist. Es passiert spätestens dann, wenn man kurz davor ist und glaubt das man es schaffen könnte. Doch den Arbeitern die über 50 sind, sieht man ganz deutlich an das sie es nicht schaffen. Krumme, schmerzende Rücken, schmerzende, abgenutzte Gelenke, dahingeschleppte, innere Krankheiten, deren Heilung zuviel Lohn aufgezehrt hätte, als das es dann noch erträglich gewesen wäre, die folgenden Jahre weiter zu existieren. Wenn es doch mal einer schaffen würde, kämen sie sicher einen Tag vorher mit einem Sonderkommando und halfen etwas nach.
Doch dafür gab es keine Anhaltspunkte.
Wozu auch. Der Staat könnte sich bestimmt leisten, einen greisen Einzelfall die paar zusätzlichen Tage auszuhalten und wenn es zur Gewohnheit werden würde, gäbe es eben erst mit 72 Jahren Rente. So ein Gesetz könnte ganz schnell verabschiedet werden. Die Reichen wurden währenddessen im Durchschnitt bis zu 140 Jahre alt und sahen mit 80 noch wie ein Arbeiter von 40 Jahren aus, mal abgesehen davon, das sie viel bessere Kleidung trugen.
Auch in den Fabriken, in den Waschräumen und Häusern, waren sämtliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen, das man bloß nicht selbst entscheiden kann, wann man sich aus diesem furchtbaren Dasein verabschieden will. Die Fabrikmaschinen konnten einen bestenfalls verkrüppeln. Sämtliche Balkone und Häuserdächer, waren unüberwindbar verrammelt und vergittert. Keine Klingen in den Waschräumen. Man hätte sich höchstens gegenseitig mit den Rasierapparaten erschlagen können, wenn man sie an dem Netzkabel als Morgenstern missbrauchte.
Uwe begann zu lachen.
Auch das fand er wieder witzig.
Er lachte so sehr, das er sich den Bauch hielt und vom Bett auf den Boden fiel. Er beruhigte sich langsam und rieb sich mit seinen Handrücken die Augen trocken von den Tränen, die nicht von der Belustigung herrührten. Schlaftabletten gab es auch nur auf Rezept und man musste sie gleich vor dem Arzt oder Apotheker schlucken. Man konnte sich sowieso keine Mengen anhäufen, die man nicht wirklich nötig hatte. Das wäre viel zu teuer gewesen. Uwe hatte sich schon den Kopf darüber zerbrochen, wie er einen einigermaßen, erträglichen "Abgang" machen konnte, wie er es ausdrückte, aber er konnte sich ja nicht mal ein Seil kaufen. Ein Arbeiter musste ein ganzes Leben arbeiten, um eine Bergsteigerausrüstung haben zu können, mit der er dann, in dem Alter, unter keinen Umständen noch etwas anfangen könnte. Selbst wenn er eines bekommen würde, könnte er sich kaum an einem Balkongeländer aufhängen, solange er nicht auf die andere Seite käme. Es war aussichtslos. Um sich den Kopf an der Zimmerwand einzurennen, war er noch nicht verzweifelt genug. Obwohl er es schon versucht hatte. Doch dazu, musste man tatsächlich noch ein paar Stufen weiter sein als er.
Uwe stand auf, rieb sich die Augen, die auch schon vorher gerötete Ränder hatten und strich sich mit kratzigen Geräuschen über seine Bartstoppeln.
Er war ein freier Mann, in einem demokratischen Land und konnte auf dem Papier, hingehen wohin er wollte. Auf dem Papier war seine Menschenwürde unantastbar.
"Das ist schön," dachte er ironisch und wünschte sich, er wäre in irgendeinem Land der Welt wo gerade Krieg geführt wurde, damit er mit einem Gewehr in der Hand frei über Felder laufen könnte und die Chance hätte, das eine Bombe auf seinen Kopf fiel und ihn aus dieser Welt riss.
Er war ein freier Mensch und hätte sich in keinem Gefängnis der Welt gefangener vorkommen können.
In diesem Moment dachte er nicht daran, aber es gab Millionen von Menschen die sich genauso fühlten wie er. Trotzdem war er ganz allein und ohnmächtig, hilflos.
Dann rückte er seine Jacke etwas zurecht und wollte sich in den Waschräumen rasieren, bevor er in der Kantine zu Abend essen würde. Heute gab es Spinat mit Kartoffeln und Spiegelei.
Wenigstens etwas, worauf er sich freuen konnte.


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(Thomas Adams 13.2.2005)